Leseprobe „Der Kaufmann von Lippstadt“

Der Kaufmann von Lippstadt Rita Maria Fust Gmeiner 2014

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Leseprobe: Seite 11-14

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In der der vergangenen Woche wurde im Hause des Kaufmanns Ferdinand Overkamp geputzt, gewaschen und gewienert. Die beiden Mägde hatten kaum eine Minute der Ruhe. Die Fenster wurden vom Staub befreit, sämtliche Gläser und das ganze Geschirr wurden gespült, Teppiche und Kissen wurden ausgeklopft und alle Kleidung wurde gewaschen. Der Kaufmannsdiener musste das Lager auf dem Dachboden aufräumen, um Platz zu schaffen für die Waren, die der Gast am morgigen Samstag mitbringen wird.

Seit Ende April ist nichts mehr wie es einmal war. Einige Tage lang bemerkte Ferdinand Overkamp, dass irgendetwas nicht in Ordnung war. Seine Gemahlin Johanna und seine älteste Tochter Elisabeth waren verändert, unruhig und schweigsam. Ja, es schien sie etwas zu bedrücken oder zu gar ernsthaft zu sorgen. Bislang war es ihm, dem erfolgreichen und angesehen Kaufmann stets gelungen, alle Sorgen und Nöte von der Familie fernzuhalten. Sie hatten ein prächtiges Haus, sehr gute Kleidung, ja, einfach alles, was ihr Herz begehrte.

Eines Abends, als draußen ein heftiges Gewitter wütete und dem April alle Ehre machte, klopfte Johanna an die Tür seines Kontors und bat um Einlass.

»Wenn Sie mögen«, bot Ferdinand seiner Gemahlin an, »können wir auch in die gute Stube gehen und dort reden.«

Johanna nickte stumm und ging voran in die Bel Etage. In der guten Stube stellte sie sich ans Fenster und blickte in Richtung des Turms der Großen Marienkirche. Nur im Licht des Blitzes wurde dieser sichtbar. Sonst lag er im Dunkeln. Starker Regen schlug an die Scheiben. Sie sah den am Glas herunterlaufenden Tropfen zu.

»Meine Liebe, was bedrückt Sie? Vertrauen Sie sich mir an. Ich werde mich des Problems annehmen«, begann Ferdinand Overkamp das Gespräch.

»Ach, Ferdinand. Wenn ich nur wüsste, wie ich beginnen soll«, sagte sie und schwieg eine Weile. Er sah sie an. Eine gut aussehende und hübsche Frau, prächtig geputzt; die blonden Haare waren mit vielen kleinen Kämmchen zu einer kunstvollen Frisur gesteckt. Sie trug eines der neuen Kleider, die er für sie hatte anfertigen lassen. Es stand ihr wahrlich gut. Sie war sein ganzer Stolz, seine Familie war sein ganzer Stolz, seine Geschäfte und sein Erfolg waren sein ganzer Stolz.

»Ferdinand«, begann sie, »es ist etwas mit Elisabeth. Sie ist …«

»… krank?!«, vollendete er erschrocken ihren Satz. »Was hat sie? Ich lasse die besten Ärzte kommen, wenn unser Dr. Buddeus nicht weiter weiß. Was quält sie?«

Johannasie trägt ein Kind brach es unter Tränen aus ihr hervor. Sie weinte und schlug die Hände vor ihr Gesicht. Die ersten Wochen hatte sie gemeinsam mit Elisabeth, ihrer ältesten Tochter, deren Schwangerschaft verschwiegen, weil sich doch manche Probleme von selbst lösten. Elisabeth wäre nicht die erste Frau, die ein Kind verlöre. Darauf hatten sie gehofft. Mutter und Tochter scheuten sich davor, ihn, Ferdinand Overkamp, ins Vertrauen zu ziehen, weil sie seine Entscheidung fürchteten, die er umgehend würde treffen, treffen müssen. Er ist ein Mann der Tat, der nicht zögern würde, das umzusetzen, was er für das Beste für die Familie hält. Johanna kannte ihren Gemahl gut genug, um zu wissen, dass in diesem besonderen Fall das Wohl der Familie nicht gleichzeitig Elisabeths Wohl sein wird.

Was taten andere Familien? Sie planten schnell eine Hochzeit und niemand stellte Fragen. So weit war es im Hause Overkamp noch nicht, denn trotz des Vertrauens, welches Elisabeth ihrer Mutter entgegenbrachte, verweigerte sie, den Vater des Kindes preiszugeben. Johanna hatte ihre Tochter gescholten und angefleht, hatte mit guten Gründen darzulegen versucht, warum es für alle das Beste sei, wenn sie sage, mit wem sie ein Stell-dich-ein gehabt habe. Doch Elisabeth schwieg. Sie schwieg und weinte, schwieg und weinte. Sogar als Ferdinand Overkamp nach mehreren Wutausbrüchen vor Verzweiflung ebenfalls zu weinen begann, weil er seinen guten Ruf in Lippstadt bereits verloren glaubte und unter diesen unschicklichen und unchristlichen Bedingungen fürchtete, keine Geschäfte mehr abschließen zu können. Sogar in solchentsetzlichen Augenblicken schwieg Elisabeth! Ihr Blick wurde starr, Tränen rannen durch ihr Gesicht, und ihr Körper begann heftig zu zittern.

Nur wenige Tage nach dem Gespräch mit Johanna entschloss sich Ferdinand Overkamp seinen Schwager und Geschäftsfreund Hinrich Jost Matthiesen nach Lippstadt einzuladen. Er hatte Weine bei ihm geordert und dieser Bestellung die schriftliche Bitte beigelegt, er, Matthiesen, möge ihn, Overkamp, in Lippstadt besuchen; es sei längst an der Zeit, einander kennen zu lernen, da man über zweierlei Wege – privat und geschäftlich – miteinander verbunden sei.

Als Ferdinand Overkamp seiner Gemahlin und seiner Tochter mitteilte, dass er Matthiesen eingeladen hätte, damit dieser auf möglichst unverdächtige Art und Weise Elisabeth mit nach Lübeck nähme, brach Johanna in ihrer großen Verzweiflung in Tränen aus. Sie wollte ihre Tochter nicht verlieren, erkannte jedoch, dass es keine andere Möglichkeit gab. Elisabeth nahm die Entscheidung ihres Vaterreglos hin. Auch als ihre Mutter sie nochmals anflehte, nun endlich den Vater preiszugeben, denn dann würde man sicherlich einen Weg finden, dass sie, Elisabeth, in Lippstadt bleiben könne. Ob sie das denn nicht wolle? Und wieder begann Elisabeth zu weinen und zu zittern, aber sie schwieg.

*

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