Die Gunst der Königin – Rita Maria Fust – Gmeiner 2016
Leseprobe Seite 11-18
PROLOG
Lippstadt, 3ter Junij 1799
»Königin Luise kommt! Heute kommt Königin Luise von Preußen nach Lippstadt!«, jubelt der Apothekergeselle Conasmann und kann seine Vorfreude kaum im Zaum halten. »Endlich sehe ich Luise wieder!« Aufgeregt stürmt er aus der Eingangstür der Adler-Apotheke und wird Bürgermeister Schmitz’ gewahr.
»Die Königin von Preußen kommt!«, ruft Conasmann, als ob der Bürgermeister es nicht wüsste. Ja, er weiß es sogar besser. »Herr Conasmann! Nicht so laut! Es schickt sich nicht, hier so herumzubrüllen, wo doch der König jeden Augenblick durch unser Lipper Tor kommen kann. Seine Majestät schätzt die Ruhe! Er befindet sich auf einer seiner Huldigungsreisen durch die Provinzen – im Augenblicke durch Westfalen. Das ist sehr anstrengend für ihn«, erklärt Bürgermeister Schmitz und sieht sich um. »Überhaupt ist es hier auf dem Marktplatz viel zu voll. Dieses ungestüme Gedränge des Volkes nimmt dem königlichen Gefolge jeden Raum zum Umspannen der Pferde. Seine Königliche Majestät machen hier heute doch nur eine kurze Rast auf dem Weg von Minden nach Wesel. Auf dem Rückweg nächtigt er hier im Delhaes’schen Hause, bevor er weiter nach Kassel reist. Er wird …«
»Er? Er?«, unterbricht Conasmann den Bürgermeister. »Sie sollten lieber von Königin Luise sprechen! Sie ist es, die das Herz der Menschen berührt. Als junger Bursche sah ich sie, als sie einst im Dezember 1793 in Berlin einzog, und ich säumte zusammen mit vielen Menschen die Straßen der Stadt. Ein unbeschreiblicher Jubel kam auf, als das preußische Volk sah, wie schön und anmutig sie ist. Unsere Königin Luise ist so reizend, und: Sie macht Lippstadt durch ihren Besuch zu etwas ganz Besonderem!«, schwärmt Conasmann.
»Haben Sie es noch nicht vernommen?«, unterbricht Bürgermeister Schmitz. »Von Minden eilte Luise ›auf kürzestem Wege‹ zu ihrer Schwester nach Hildburghausen. In ein paar Tagen wird sie nach Wilhelmshöhe reisen und dort wieder mit dem König zusammentreffen.«
»Wie meinen?« Conasmanns Stimme bekommt augenblicklich einen hysterischen Ton.
»Königin Luise kommt nicht nach Lippstadt«, spricht Bürgermeister Schmitz jenes deutlich aus, was alle – von Magistrat bis Gesinde – mit Schrecken und unermesslichem Bedauern vernommen haben. Königin Luise kommt nicht nach Lippstadt! Sie war angekündigt, ja, aber dann änderte sie ihre Reiseroute. So bleibt Lippstadt diese große Ehre verwehrt. Luise hätte tatsächlich mit ihrem Glanze die Stadt erleuchtet, da hat Conasmann durchaus recht, denkt Bürgermeister Schmitz und muss schmunzeln, denn er weiß, dass Conasmann meist seine höchsteigene Sicht auf die Dinge hat.
»Sie kommt nicht?«, bricht es aus Conasmann hervor. »Luise kommt nicht? – Was ist das hier für eine Stadt, die es anscheinend nicht schafft, alles so prächtig herzurichten, dass Luise lieber nach Lippstadt kommt, statt irgendwo anders hinzureisen. Sie, mein lieber Schmitz, hätten ihr etwas Besseres bieten müssen. Ein Quartier, wo sie auch logieren möchte!«, fordert Conasmann und wird immer lauter.
»Aber das habe ich doch. Stellen Sie sich vor: Justizrat Rose wollte erreichen, dass König und Königin draußen vor den Toren der Stadt in seinem Hause nächtigen! Hinter dem Rücken des Magistrats hat er versucht, das einzufädeln. Können Sie sich vorstellen, wie bestürzt ich war?«, fragt Bürgermeister Schmitz, ohne eine Antwort zu erwarten.
»Und ich erst einmal! Ich kann es kaum ertragen! Königin Luise kommt nicht.« Conasmann reibt mit den Fingern seine Schläfen und schüttelt dabei voll Unverständnis den Kopf. Wie hat es so weit kommen können? Welch eine Enttäuschung!
»Ich habe seinerzeit umgehend einen Brief verfasst«, rechtfertigt sich der Bürgermeister, »um Seine Königliche Majestät zu seiner Zufriedenheit unterzubringen. Sämtliche Nachteile zählte ich auf: das Gebäude des Justizrats Rose sei verfallen, Fenster und Türen schlössen nicht recht, sodass sich der Rauch aus der Küche überall im Hause verteilen könne. Die …«
»Nicht auszudenken«, unterbricht Conasmann. Das Entsetzen schnürt ihm die Kehle zu.
»Fürwahr! Die übertünchten Wände dünsten ungesunde Gerüche aus, und es läge eine halbe Stunde von unserer Stadt entfernt, schrieb ich nach Berlin!«*, erinnert sich Bürgermeister Schmitz.
»Wie entsetzlich!« Ob Conasmann das Fernbleiben der Königin oder die schädlichen Ausdünstungen meint, bleibt unklar.
»Wir haben ja dieses prächtige Haus hier«, zeigt der Bürgermeister stolz auf das am Markte gelegene neue Gebäude. »Es wurde mit Eleganz möbliert und bietet alle nur denkbaren Bequemlichkeiten. Herr Delhaes, der Besitzer, ist so freundlich, es dem König für die Zeit seines Aufenthaltes zu überlassen«, erklärt Bürgermeister Schmitz und macht so deutlich, dass seitens der Stadt wahrlich alles getan worden ist, um es für das königliche Paar angenehm zu machen. »Wir, der Magistrat, haben mit äußerster Sorgfalt dieses Quartier für Seine Majestät und Seine Gemahlin ausgewählt. Es hätte ihr gefallen! Da bin ich ganz sicher! Aber nun …«
»Luise kommt nicht«, wiederholt Conasmann, denn das ist das Einzige, was zählt. Leider. Wie gut das Quartier ausgewählt wurde, ist nicht mehr von Bedeutung. Ob es der Königin gefallen hätte, wird niemand erfahren. »Sie kommt nicht. Sie kommt nicht«, sagt Conasmann ein ums andere Mal, schüttelt den Kopf und geht in die Schenke Goldener Hahn, die nur wenige Schritte entfernt liegt. Nun steht Bürgermeister Schmitz wie bestellt und nicht abgeholt auf dem Marktplatz und weiß nicht, was er tun soll. Der anstehende Besuch überfordert ihn. Wie viel Arbeit Königliche Gäste machen, denkt er allzu oft, davon macht sich niemand ein Bild.
»Wie immer, Conasmann? Eine Kanne Bier bester Sorte?«, begrüßt der Wirt seinen Gast.
»Nein, heute brauche ich etwas Starkes. Einen Schnaps. Besser gleich zwei!« Die tiefe Enttäuschung in Conasmann will betäubt werden.
»Wie Sie wünschen.« In Sekundenschnelle kippt Conasmann die beiden Schnäpse hinunter, schüttelt sich und schiebt ein leeres Glas über die Theke zum Wirt. Dieser versteht das Zeichen und gießt nach. Das wiederholt sich mehrere Male. Es dauert keine Viertelstunde, bis Conasmann aufsteht, den Wirt bittet, alles aufzuschreiben – er käme morgen, um die Rechnung zu begleichen – und den Goldenen Hahn verlässt. Vor der Tür stolpert Conasmann über seine eigenen Füße und stürzt. So quer auf der Langen Straße liegend, zwingt Conasmann die Königliche Kutsche, die soeben das Lipper Tor passiert hat, zum Halten. Der Kutscher springt vom Bock und hilft ihm auf die Beine. Er klopft sogar den Staub hinten von Conasmanns Jacke. Dieser begreift trotz seines betrunkenen Zustandes, dass diese schmuckvolle Kutsche nur die des Königs sein kann. Statt ein Wort des Dankes zu seinem Helfer zu sprechen, geht Conasmann zur Kutschentür, reißt diese zum großen Erschrecken aller auf und schimpft mit wüsten Worten auf den König von Preußen ein. Wieso er seine Gemahlin nicht mit nach Lippstadt gebracht habe, er dürfe sie dem Volke nicht vorenthalten, nein, das ginge nicht und überhaupt, wie er es als König erlauben könne, dass die Königin allein durch die Welt reise. »Wo leben wir denn?«, fragt Conasmann aufgebracht, ohne eine Antwort zu erwarten. »Was bilden Sie sich eigentlich ein, Sie … Sie …«
Noch bevor Conasmann die vermeintlich richtigen Worte für weitere königliche Beschimpfungen finden kann, zerrt der Leibkutscher mit geübtem Griff den wütenden Conasmann von der Kutschentür fort. Die tiefe Enttäuschung ist in blanke Wut umgeschlagen.
»Was ist geschehen?«, fragt Bürgermeister Schmitz, nach Luft schnappend. Vom Marktplatz aus hat er beobachten können – müssen! –, dass etwas Unvorhergesehenes geschehen ist, und sofort ist er in aufsteigender Sorge zur Kutsche gelaufen. »Eure Majestät, ich bitte aufrichtig um Verzeihung«, stammelt Schmitz ungeübt und verbeugt sich so tief vor der noch geöffneten Kutschentür, dass er sich den Kopf am Fußtritt stößt. »Au«, entfährt es ihm.
»So bin ich noch an keinem Ort empfangen worden«, stellt der König von Preußen fest. »Der eine schlägt lang hin und beschimpft mich, der andere stößt sich den Kopf. Alle anderen Menschen der Stadt umzingeln meine Kutsche, als wollten sie verhindern, dass ich in ihre Stadt einfahre. Ich kann Ihnen schon jetzt versichern, dass ich Lippstadt nie mehr vergessen werde!«
»Wir werden auch nie vergessen, wie Sie uns enttäuscht haben«, ruft Conasmann vom Straßenrand und reißt sich los. »Wenn wir es hätten verhindern können, wären Sie jetzt nicht hier. Ohne Luise …«
»Sprechen Sie nicht über meine Gemahlin, als seien Sie mit ihr vertraut!«, fordert der König von Preußen in strengem Ton.
»Luise – Luise – Luise«, ruft Conasmann provozierend wie ein dreckiger Straßenjunge und zeigt dem König die lange Nase.
»Entfernen Sie den Mann!«, befiehlt der König von Preußen. »Ich dulde diese Verspottung militärischen Grußes nicht!«
»Bitte entschuldigen Sie vielmals!«, stammelt Bürgermeister Schmitz unterwürfig und weiß nicht, wie er der Angelegenheit Herr werden soll. Noch während er überlegt, was zu tun ist, kommen zwei kräftige Männer, um Conasmann fortzubringen.
Wenige Stunden später steigt der König satt und erfrischt wieder in seine Kutsche. Die Pferde sind umgespannt. Das angenehme Wetter hält sich, und alle sind guter Dinge, dass nun der König nebst Gefolge ohne nennenswerte Vorkommnisse wie geplant nach Wesel reisen könne. Das Volk drängt auf dem Marktplatz immer näher an die Kutsche heran. Dieses prunkvolle und größtenteils vergoldete Gefährt wollen sie bestaunen und sogar berühren. Doch das lassen Bürgermeister Schmitz’ Nerven nicht zu.
»Geht! Geht heim! Seine Königliche Majestät braucht doch Luft zum Atmen. Macht ihm Platz. Gleich gehen die Pferde durch, wenn es hier so eng ist.«
Doch das Lippstädter Gesinde scheint Bürgermeister Schmitz nicht zu hören. Sie bestaunen lauthals die Kutsche, rufen sich Bemerkungen zu und freuen sich ausgelassen über den königlichen Besuch.
»Lasst mich duich!«, fordert Conasmann und lallt derart stark, als habe er in den letzten Stunden nicht geruht, sondern gesoffen. »Ich hab’ dem Könich noch was su sag’n!« Conasmann bahnt sich den Weg durch die Menge; zwischen all den Menschen ist es sehr warm und stickig, sie stinken mehr als sonst nach Schweiß und anderem, sodass ihm, Conasmann, auf einmal ganz übel wird. Auch der Schnaps wird seinen Teil dazu beitragen. Sein Magen scheint sich zu wenden, und noch bevor er begreift, was kommt, geschieht es auch schon: Er übergibt sich. Nicht einmal, gleich mehrmals und trifft dabei sowohl die Tür der königlichen Kutsche, den entsetzten Leibkutscher, und – das ist das Beklagenswerteste überhaupt – des Königs neuen polierten Rindslederstiefel. Dem König von Preußen, seinem Gefolge und dem Bürgermeister Schmitz fehlen die Worte. Sie schweigen, das Entsetzen ist zu groß. Nur das umstehende Gesinde findet in seiner Sprache derbe, aber leider passende Worte:
Conasmann hat auf den König gekotzt!
*
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